Kai Meyer - Die Merle Trilogie

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mordsfilm
Altstadtquerulant
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Kai Meyer - Die Merle Trilogie

Beitrag von mordsfilm »

Da sich ja der eine oder andere der Hiesigen durchaus zum Genre der Fantasy hingezogen fühlt, möchte ich hier gerne eine Trilogie vorstellen, die vom einzigen deutschen Autor stammt, dem ich ohne Vorbehalte die Klasse seiner vielen angelsächsischen und amerikanischen Kollegen zugestehe:

Kai Meyer

Spätestens seit der besagten Merle Trilogie spielt er in der Ersten Liga mit.
Obwohl diese Bücher in einem ausgesprochenen Kinder- und Jugendverlag erschienen sind (Belz&Gelberg), sind sie nicht ausschließlich für Kids und Jugendliche, sondern bereiten auch Herrschaften im gesetzen Alter ein außerordentlich spannendes Lesevergnügen.


Band 1: Die fließende Königin

Merle, das Mädchen aus dem Waisenhaus Venedigs, ist auf dem Weg, eine Lehrstelle bei einem Spiegelmacher anzutreten, ohne zu ahnen, daß sich ihr Leben auf eine überwältigende, erschreckende, spannende und auch grausame Art und Weise verändern wird, die sie schließlich zur alleinigen Hoffnung ihrer phantastischen Welt macht.

Kai Meyer gelingt es, eine so viel andere und komplexe Welt zu erzeugen, als wir sie kennen und sich dabei augenzwinkernd im gesamten Kosmos der Mythen- und Sagenwelt, der Fantasy Literatur und -Filme die Anregungen zu holen, die dieses Werk zu einem spannenden Lesespaß erster Güte machen, ohne daß auch nur eine Stelle als plumpes Plagiat wirkt.

Besonders hoch ist ihm dabei anzurechnen, daß er der Versuchung, der so viele Fantasy Autoren erliegen, widerstehen kann und den Tolkien Kosmos an Wesen und Welten einfach ignoriert.
Keine Orkwesen, kein personifiziertes Böses, keine allmächtigen Magier (na gut, einer, aber den hält man aus), sondern eine in sich geschlossene und schlüssige Welt überbordender Phantasie, die er im Kopf des Lesers entstehen läßt und sich dabei eines schlicht genialen Kunstgriffs (welcher, soll hier nicht verraten werden) bedient, um langatmige Erklärungen der Vergangenheit zu umgehen.


Band 2: Das steinerne Licht

Merle ist auf dem Weg in die Hölle, um dort keinen Geringeren als Lord Licht, den Herrscher der Unterwelt um Hilfe für Venedig zu bitten, das von der Mumienarmee der Ägypter eingenommen wurde und in dem Merles Freund sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen hat, die nichts weniger im Sinn hat, als einen Anschlag auf den Pharao.

Anders als im ersten Band, entscheidet sich Kai Meyer im Steinernen Licht nicht für einen sondern für zwei Helden und damit für zwei Perspektiven.
Dadurch verliert die Geschichte ein wenig an Geschlossenheit, da sich parallele Handlungen eben nicht parallel, sondern eben nur nacheinander erzählen lassen.
Es ist dem Autor aber hoch anzurechnen, daß er trotzdem nicht wie etwa Pullman in DAS BERNSTEINTELESKOP vollkommen den Überblick und das Ziel aus den Augen verliert.
Was seine Helden tun, bleibt nachvollziehbar und spannend und es findet in ihnen jeweils eine Entwicklung statt, die sie vorantreibt. Die Personen und die Handlung.
Der zweite Band der Trilogie ist eine atemberaubende Gratwanderung, bei der die Geschichte aber trotzdem nicht abstürzt, auch wenn sie ab und zu ins Wanken gerät.


Band 3: Das gläserne Wort

Zurück aus der Hölle, landet Merle mit ihren Freunden und Kampfgefährten zu ihrer Überraschung nirgendwo anders als ausgerechnet in Ägypten, wo sie die letzte Chance wahrnehmen muß und den Feind dort attackieren, wo er sich am stärksten fühlt. Sie ahnt nicht, daß sie dort völlig unerwartet Hilfe bekommen wird.

Seit Tolkien ist die Roman-Trilogie so etwas wie die klassische, große Form der Fantasy.

Im ersten Band lernen wir für gewöhnlich die Helden in ihrer gewohnten Umgebung kennen, die durch ein unerwartetes Ereignis von außen dazu gezwungen werden, um die Heimat zu retten in die Fremde zu ziehen und sich dort einem Kampf zu stellen, zu dem sie absolut nicht qualifiziert sind und eigentlich nur unterliegen können.

Der zweite Band läßt sie die ersten Schlachten schlagen, sich bewähren und eine verschworene Gemeinschaft finden, kleine Erfolge erringen und Niederlagen einstecken, die die Gefahr für die Heimat nur noch vergrößern, um schließlich vor dem dritten Band an der Tür des Gegners anzukommen und sich ihrer Ohnmacht bewußt zu werden.

Den Abschluß bildet dann im letzten Band die große Konfrontation mit dem Feind, der erst gezwungen wird, den kleinen, schwachen Aufständigen zur Kenntnis zu nehmen, dann als würdigen Gegner zu akzeptieren und ihm schließlich im finalen Duell zu unterliegen. Alle Verwicklungen der Geschichte werden gelöst und es gibt ein überzeugendes Ende.

Bei der FLIESSENDEN KÖNIGIN ist die Struktur nicht viel anders.

Was bei Kai Meyer anders ist als bei den meisten anderen Trilogien, und das kann man als anspruchsvoller Leser gar nicht genug loben, ist, daß ihm das Vorhaben wirklich gelingt.

Im dritten Band werden alle Erzählstränge tatsächlich wieder zusammengeführt; was in den ersten beiden Büchern nur angedeutet wurde, findet hier seine Erklärung und Auflösung und das große Finale ist dem Anlaß, nichts weniger als die (vorläufige) Rettung von Merles Welt, wie sie sie kannte und ihrer Rolle in all den dramatischen Entwicklungen, durchaus angemessen und nicht ohne Tränen.

Kein Krieg läßt eine Welt unverändert und ohne Opfer.

Wenn Kai Meyers Trilogie mit Pullmans (Der gläserne Kompaß, Das Magische Messer, Das Bernsteinteleskop) verglichen wird, dann hat das seine Berechtigung.

Die Geschichten ähneln sich in ihrem Ansatz: Ein Mädchen wird in ein unglaubliches Abenteuer gerissen und muß verstehen, daß von ihr nichts weniger als die Rettung der Welt erwartet wird.

Was aber Kai Meyers Werk grundlegend von dem Pullmans unterscheidet ist, daß Pullmann sich, nach einem genialen ersten Band und einem guten zweiten, vollkommen hilflos in seinen unendlichen Welten verstrickt und verliert, sich an Nebensächlichkeiten ohne Bedeutung für das Finale abarbeitet und am Ende nicht mehr in der Lage ist, alles auch nur halbwegs überzeugend oder gar spannend wieder zusammenzuführen.

Ganz anders Kai Meyer.

Hier ist der letzte Band tatsächlich ein krönender Abschluß, stimmig, logisch und in jeder Hinsicht angemessen!

Und daß er ein kleines Hintertürchen für eine Fortsetzung in der Spiegelwelt offen läßt, irgendwann einmal, macht es für die Fans, die er mit diesem Werk von einer visuellen Komplexität und Wucht, wie man sie in der Fantasy Literatur selten findet, nur noch spannender.
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hpt.mumm
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Beitrag von hpt.mumm »

Vielen Dank für diese Rezension.
Jetzt weis ich wie ich die Osterfeiertage verbringen werde.

Grüße
Robert
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