Der Berg ruft ...

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insideR
Herr Barth
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Beitrag von insideR »

Herr Black RS möchte tatsächlich, dass ich das Fahrrad mit nach Monnem bringe.

Der hat wohl vor nix Angst.
Beo

Beitrag von Beo »

.
Zuletzt geändert von Beo am 26. Apr 2011 09:24, insgesamt 1-mal geändert.
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insideR
Herr Barth
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Beitrag von insideR »

Meinten Sie mich, als Sie Beleidigung unterstellten?
MacMurphy
Dreizehneinhalb
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Über alle Berge

Beitrag von MacMurphy »

parental advisor: explicit lyrics

Über alle Berge

Teil 1


Die Sicht war schlecht auf den Straßen, doch der Gefangenentransport, der die stürmische Nacht durchschnitt, konnte nicht anhalten, bevor er seine Fracht abgeliefert hatte.
„Verdammtes Scheißwetter.“ sagte einer der beiden Wachmänner, die im Führerhaus saßen und beugte sich nach vorne, um durch die Windschutzscheibe das kleine Stück Straße vor ihnen, das von den Kegeln der Scheinwerferlichter erhellt wurde, besser sehen zu können.
Quietschend schoben die Scheibenwischer die Wassermassen, die flutartig auf den Kleintransporter niederprasselten zur Seite, doch die gleichmäßige Mechanik der Wischerblätter konnte dem permanenten Trommeln des Sturmregens nur wenig entgegensetzen.
Der Fahrer des Fahrzeugs antwortete nicht, zu sehr war er darauf konzentriert, den Wagen nicht von der schmalen Straße in den angrenzenden Wald zu manövrieren. Wenn sie bei diesem Wetter eine Panne hätten, müssten sie die ganze Nacht hier ausharren, bis eine Ablösung käme, die den Transport übernehmen könnte.
„Verdammtes Scheißwetter.“ wiederholte der Wärter auf dem Beifahrersitz in abfallendem Ton, als ob er sich selbst eine Antwort, auf die vorherige Feststellung geben wollte.
„Warst Du schon mal in dem neuen Gefängnis?“ fragte er den Fahrer weiter. „Soll doch ausbruchsicher sein.“ ergänzte er seine Frage und gab sich gleichzeitig eine Antwort, weil er bereits ahnte, dass er sonst keine bekäme. Der Wachmann, der den Wagen lenkte wandte seinen Blick nicht von der Straße. Die weißen Fahrbahnmarkierungen, die das Scheinwerferlicht reflektierten, waren alles, woran er sich im undurchdringlichen Regen der Nacht orientierte konnte.
Wild peitschten Regenfäden über das Fahrzeugdach; immer wieder wurde die Karosse von plötzlich stärker werdenden Windböen geschüttelt.
„30 Millionen!“, “30 Millionen hat der neue Knast gekostet und jetzt müssen sie die Zellen voll kriegen.“ versuchte der Beifahrer hartnäckig Smalltalk zu führen, doch der Fahrzeuglenker reagierte nicht einmal mit einem Nicken. „Verdammt viel Geld für diesen Abschaum.“
Der vor sich hin redende Wachmann schien für einen kurzen Moment die Nerven zu verlieren, als er bemerkte, dass niemand ihm zuhörte. Er riss mit seiner Linken die kleine Luke auf, durch die man von der abgetrennten Fahrerkanzel hinter zu den Gefangenen im Laderaum blicken konnte und schrie durch das Gitter der Luke: „Verdammt viel Geld für Abschaum wie euch!“ Keiner der drei Häftlinge antwortete ihm, nur ein leichter Hauch schweisssüßen Geruches, der sich im Gefangenenraum festgesetzt hatte, drang durch die kleine Luke nach vorne. Mit einer gleichgültigen Bewegung schloss er die Luke wieder und beschloss, für den Rest der Fahrt zu schweigen.


Endlos schien der Sturm im schwarz der Nacht, durch den sich das Fahrzeug seinen Weg kämpfen musste.
Wie zur Ablenkung vor seinen tiefsten Ängste, davor im Sturm zu sterben oder einfach davor von seinem Kollegen nicht beachtet zu werden, begann der Wachmann wieder zu reden: “Hast Du das Spiel gestern Abend gesehen?“ Noch bevor er seinen Satz beenden konnte wurde sein Körper von Fliehkräften gepackt und an die Innenseite der Beifahrertür gepresst. Der Fahrer wurde von einem zum nächsten Moment schweißnass, riss seine Augen so weit auf wie er konnte und streckte die Ellenbogen seiner beiden Arme durch, damit sich das Lenkrad nicht seinem festen Griff entreißen konnte.
Ein großer abgebrochener Ast tauchte im Moment davor im Scheinwerferlicht, mitten auf der Straße auf. Die Vollbremsung, die der Gefangenentransporter vollzog, riss das Heck sofort herum. Durch die nassen Straßen hatte der Wagen jegliche Bodenhaftung verloren und schlitterte seitwärts den überspülten Weg entlang.
Das Fahrzeug kippte zur Seite und rieb sich seinen Weg auf der Flanke über den Asphalt. Funken sprühten von den Reibeflächen und verglühten gleich wieder dampfend im Regen.
Die nächste Kurve, auf die der Gefangenentransport unkontrolliert zusteuerte, entschied darüber, wo die Fahrt enden sollte. Das Kratzen und Krächzen des Metalls auf dem Asphalt stoppte je sein Konzert, als der Wagen über die Böschung schlitterte und vom Boden abhob.
Einige Sekunden schwerelos, bevor die Karosserie mit einem Scheppern auf den Waldboden aufschlug und sich überschlagend seinen Weg unaufhaltsam fortsetzte. Wie Papier, das man zerknüllt, verformte sich das Blech; Glas splitterte, Äste und Gehölz brachen eine Schneise durch den Wald, bis ein großer Baum, auf den das Auto schmetterte der Fahrt ein Ende setzte.
Als das Fahrzeug qualmend zum Stillstand kam, trommelte der Regen weiter seine Triumphmelodie auf das geborstene Blech des Wagens.
Es dauerte eine Weile, bis sich im Inneren des völlig zerstörten Polizeitransporters etwas regte.
„Seid ihr OK?“ fragte einer der Häftlinge die anderen, als ob er gerade von einem fürchterlichen Albtraum erwacht wäre. Er bekam nur dumpfes Stöhnen zur Antwort.
Die drei Gefangenen lagen über- und untereinander zusammengewürfelt in einer Ecke des Laderaums.
„Seid ihr OK?“ fragte der Gefangene wieder, der zuerst zu sich kam. Martin erwiderte ein strapaziertes „Was ist passiert?“ und löste sich dabei von den anderen, die ihn immer noch halb begruben. Als auch der dritte, Jens, zu sich kam, begann er laut zu schreien.
Die Handschellen, die jeder von ihnen trug, machten es schwer sich von den ineinander verharkten Armen und Beinen zu befreien.


Der Kräftigste von den dreien hatte es zuerst geschafft, sich von den anderen zu lösen und kroch auf die Öffnung des Laderaums zu, die vorher von einer schweren Panzertür versperrt blieb. Die Tür musste von dem heftigen Überschlagen abgerissen worden sein und so konnte er jetzt hinaus ins Freie sehen, wo der Sturm weiter tobte, ohne auch nur Notiz von dem schweren Unfall zu nehmen, den der Gefangenentransport widerfahren war. Auf allen Vieren sah der hünenhafte Mann hinaus in den Regen, dann drehte er seinen Kopf wieder zu den Mitgefangenen und fragte wieder: „Alles OK mit euch Arschlöchern?“.
Martin tat ihm gleich und kroch auf allen Vieren auf den Ausgang zu, sagte dabei: “Den da hinten scheint es erwischt zu haben.“. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Jens, der immer noch in der Ecke saß und sich schmerzverzerrt sein Bein hielt.
Das Schwergewicht sah nach hinten in die Ecke, dann kroch er zurück zu Jens. Seine Handschellen rasselten mit jeder Bewegung auf dem Wagenblech.
„Lass mal sehen.“ raunte er zu Jens und deutete ihm, seine zusammengeketteten Hände von seinem Bein zu nehmen. <DEPPENACCENT> Schienbein war unnatürlich zur Seite gebogen, was der Riesenkerl mit einem „Ist gebrochen.“ kommentierte.
„Du!“ fuhr er jetzt Martin an, der im Begriff war, den Wagen zu verlassen, „Wir brauchen was zum Schienen.“ „…und was zum Festbinden.“. „Ist gut.“ antwortete Martin „Ich <DEPPENACCENT> mal, ob ich draußen etwas finden kann.“
Martin zwängte sich durch die Öffnung der Häftlingskabine nach draußen. Der Regen, der auf ihn nieder schüttete tat gut und linderte ein wenig die Blessuren, die er vom Unfall davon trug. Erst jetzt konnte er sehen, dass sie sich mitten in einem schräg abfallendem Waldstück befanden. Er sah die Schneise entlang, die der Wagen geschlagen hatte, den Hang nach oben, doch der Regen versperrte ihm die Sicht, um bis zur Straße sehen zu können. Martin ging um das Wrack herum, wobei er sich mit beiden Händen daran fest hielt, um nicht auf dem glitschig, nassen Waldboden auszurutschen. Die Fahrerkanzel war völlig zerstört, weißer Qualm drang aus dem Motorraum. Martin schaute durch die zerbrochenen Fenster ins Innere des Führerhauses. Den Fahrer hatte es schwer getroffen; das Lenkrad steckte in seinem Kopf und hatte ihm sämtliche Zähne ausgeschlagen und den Unterkiefer aus dem Gelenk gesprengt. Überall klebte Blut. Die Tachonadel mit einem Stück des zerrissenen Tachos daran steckte ihm in der Stirn. Die offenen Augen und der erstarrte Blick verrieten ohne ärztliche Untersuchung, dass er mausetot war. Vom Beifahrer fehlte jede Spur, nur seine abgerissene Hand steckte noch im Türknauf auf der Innenseite der Beifahrertür. Martin griff durch das Fenster der Fahrertür, um einige Stofffetzen vom Hemd des Fahrers abreißen zu können, die er zum Verbinden von <DEPPENACCENT> gebrochenem Bein brauchte. Der Stoff wollte sich nicht mit dem ersten Ruck vom Körper des Fahrers lösen und als Martin weiter in die Führerkanzel blickte, sah er, dass der Unterleib des Wachmanns gut einen halben Meter vom Oberkörper nach hinten versetzt war – seine beiden Beine waren völlig zerquetscht, wie Bananen, die man mit einem Hammer bearbeitet hatte.


Martin musste seinen Blick von der Leiche abwenden, um weiter am Hemd der Uniform ziehen zu können, bis er einen großen Fetzen davon abgerissen hatte. Er hangelte sich wieder an der Seite des Fahrzeugs entlang bis nach hinten, dort griff er ein längliches Stück Metall, das neben anderen Fahrzeugtrümmern auf dem Boden herum lag und kroch damit auf den Ellbogen wieder ins Fahrzeuginnere.
Der große Häftling hatte das Beinstück von <DEPPENACCENT> Hose aufgerissen und man konnte sehen, dass ein gebrochenes Stück Knochen die Haut seiner Wade so spannte, dass sich eine dicke Beule an seinem Bein abzeichnete.
„Hier.“ sagte Martin und gab dem Großen die Metallleiste und die Hemdsfetzen. Der Mann legte die Sachen neben Jens, dann packte er mit seiner prankenartigen Hand kurz über die Bruchstelle an Jens Bein, mit der anderen Hand griff er kurz unter den Bruch, so, dass die Kette seiner Handschellen noch etwas Spiel hatte und leicht durch hing. Er wendete sich zu Martin: „Die Wachmänner?“ Martin schüttelte erschreckt den Kopf, als er sich das Bild der Wachmänner in Erinnerung rief.
„Verdammte Arschlöcher!“ sagte er noch, bevor er mit einem kräftigen Ruck das Bein auseinander zog, bis sich die Kette seiner Handschellen mit einem Geräusch, wie vom Klirren eines Schlüsselbundes, spannte. Jens schrie und verdrehte seine Augen. Der Mann, der das Bein hielt, schaute Jens bemitleidend an, schließlich wusste er ja nichts von der feinen mit unzähligen Nervenbahnen durchzogenen Hautschicht, die die Knochen umgab und die er gerade zum zerbersten gespannt hatte. Jens kämpfte mit der Ohnmacht, während sein Bein geschient wurde. „Wie heißen Sie?“ fragte er unter starkem Schwitzen den Mann, der an seinem Bein herumdoktorte.
„Ich bin Chacko.“ gab dieser trocken zurück.
Jetzt erkannte auch Martin, was sich der schwere Mann in altdeutschen Lettern auf den Nacken tätowieren ließ, es war sein Name, Chacko, der sich unter einem langen Haarzopf in dunkler Tinte von der Haut des Nacken abhob.
„Ich heiße Martin.“ stellte sich Martin den beiden in der Ecke des Gefangenenkäfigs vor und sah dann wieder aus der Türöffnung hinaus in den Regen, nicht wissend, wo hin.
Jens merkte, dass sich Chacko nicht um Martins oder seinen Namen kümmerte, so rief er etwas lauter, damit Martin ihn durch das permanente Plätschern des Unwetters hören konnte: “Ich heiße Jens!“.




„Was machen wir jetzt?“ fragte Martin zurück. “Wollt ihr Arschlöcher vielleicht hier bleiben und warten, bis sie kommen und euch holen?“ warf sich Chacko aufbrausend zwischen die beiden anderen
„Der neue Hochsicherheitstrakt ist doch in Klagenfurt.“ stellte Jens fest, sog dann laut zischend Luft durch seine Mundwinkel ein, um den immer noch anhaltenden Schmerz zu beherrschen „Wir müssen nur über die Berge, dann sind wir in Slowenien. Dort werden sie uns nicht kriegen.“ „Slowenien?“ gab Martin missmutig zurück „Ja, Slowenien. Wir schlagen uns dann bis Triest durch und setzen uns nach Italien ab.“ „Italien.“ bestätigte Martin.
Ohne <DEPPENACCENT> Ausführungen zu unterbrechen, schien Italien auch Chacko zuzusagen.
Martin kroch wieder aus dem Wrack, gefolgt von Chacko und Jens.
Sofort wurden sie vom kalten Regen durchnässt, die Haare, die Gefängniskleidung, alles triefte und wurde schwer. Von den silberfarbenen Handschellen, die jeder von ihnen trug, perlten die Tropfen in nicht enden wollenden Strömen. So feucht und gequält, stiegen sie aus dem Bauch des völlig zerstörten Polizeitransporters, der sie wie eine Mutter in die Welt geboren hatte. Sie musterten sich, aufrecht gegenüber stehend.
<DEPPENACCENT> geschientes Bein winkelte steif von seiner geraden Haltung ab – trotz der Verletzung war er bereit den Weg bis nach Italien anzutreten. Martin war etwas größer als Jens, doch wirkte er durch seinen leicht geknickten Stand kleiner. Chacko und Jens merkten gleich, dass Martin nicht zu der Art Mensch gehörte, die sich durchs Leben kämpfen konnten.
So blickte Chacko argwöhnisch, wie auf einen begossenen Pudel, zu Martin hinab.
Chacko selbst sah aus wie ein Proficatcher, der nach gescheiterter Karriere dem Alkohol verfiel.
Er hatte einen übermächtigen Brustkorb, Arme, die so dick waren wie Martins Beine und einen Bauch, der wie eine Kanonenkugel das durchgeweichte Hemd der Gefängniskleiderkammer spannte. Wenn Chacko in einem vollen Kaufhaus im rosa Hasenkostüm herumlaufen würde, wäre er weniger Aufsehen erregend, wie in Jeans und Hemd. Er hatte ein fleischiges, aufgedunsenes Gesicht, auf dem der Regen wie sein eigener Schweiß herunter lief. Seine langen Haarsträhnen klebten schwarz glänzend auf seiner Stirn.
An den Enden seiner Hemdsärmel und unter seinem Kragen schimmerten dunkle Tätowierungen durch, die über seinen ganzen Körper miteinander verbunden sein mussten.
„Und? Welche Richtung sollen wir gehen?“ fragte er barsch, um die erschreckten Blicke, die auf ihn gerichtet waren, zu durchbrechen.
„Bergauf – würde ich sagen.“ antwortete Martin mit beiläufigem Zynismus.
Jens starrte noch ängstlich auf Chacko, schloss sich dann aber Martins Worten an: „Wir müssen über die Berge.“ und zeigte dabei mit seinen zusammengeketteten Händen den Abhang hinauf, durch den der Unfallwagen eine breite Schneise gepflügt hatte.


Der Dauerregen hatte den Waldboden weich und rutschig gemacht, so dass der Aufstieg bis zur Straße sehr mühsam werden würde, zumal sie nicht die verketteten Arme zum Ausbalancieren benutzen konnten, wenn der Boden unter ihren Füßen zu entgleiten schien.
Jens fiel durch sein steifes Bein etwas zurück und zog sich kleine Risswunden zu, als er sich mit seinem Körper an den Bäumen, aus denen Spitzen abgebrochener Äste sprossen, abzustützen versuchte.
Als sie die überspülte Straße erreichten, waren sie froh, den festen Asphalt unter ihren Füßen zu spüren. Sie verschnauften einen Moment. Die Straße war in dieser Nacht zu einer unbefahrbaren großen Pfütze geworden; abgerissene Metallteile, Außenspiegel, Felgen, lagen
verstreut. „Es ist gut, dass es regnet.“ unterbrach Chacko sein Keuchen „So werden sie unsere Spur nicht verfolgen können.“
„Wir sollten weitergehen, bevor ein Auto kommt und uns sieht.“ sagte Martin.
„Ja, Martin hat Recht. Wir können weiter oben noch Pause machen.“ trotzte Jens seiner schmerzhaften Behinderung.
Von der Straße weg ging es nur bergauf durch den dichten Tannenwald. Die Bäume hielten das meiste des Niederschlags ab, doch die Feuchtigkeit, die alles durchdrang war an den Bäumen, den Ästen, auf dem Boden, in den Kleidern, in den Haaren und auf der Haut allgegenwärtig.
Der Fußmarsch folgte seinem Ziel durchs Undurchsichtige des Waldes.
Jeder der Wanderer sah nur den nächsten Schritt auf dem Unterholz des Waldbodens und ob er halt haben würde, fest war und sie ein Stück weiter in die Freiheit, die irgendwo in der Dunkelheit der Nacht auf sie wartete, voranbringen würde.
Ihr Atem keuchte schwer, sie sprachen nichts, als ob sie sich wie Beutetiere auf der Flucht ihren Weg bahnten - nur das helle Gerassel der Handschellen erinnerte mit jeder Bewegung daran, wie wenig sie in die natürlich gewachsenen Umgebung des Waldes gehörten.
Je weiter sie ihren Weg fortsetzten, desto unebener wurde der Boden unter ihren Füßen.
Über Baumwurzeln, um umgestürzte morsche Baumstämme und durch Schlammlöcher folgten sie nur der einen Richtung nach oben.
Wenn Jens, der alle Mühe hatte, Schritt zu halten, zurückfiel, packte ihn Martin an den durchnässten Hemdsärmeln und zog ihn in wortloser
Absprache über die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellten.
Chacko, der voraus ging, um Äste auf dem unbetretenen Pfad zur Seite zu biegen, ohne sie abzuknicken und dadurch Spuren hinterlassen würde, blieb stehen, als sich vor ihnen eine kleine Waldlichtung auf tat.
Kaum größer als der kleine Innenhof des Gefängnisses aus dem sie kamen, bot sich die Lichtung, wie eine Oase, gesäumt mit grünem Gras, einem ausgehöhlten Baumstumpf und einigen schweren Felsbrocken in ihrer Mitte, zur Rast.


Erst hier, unter freiem Himmel, merkten die drei, dass es längst aufgehört hatte zu regnen.
An den Baumstumpf lehnend setzten sie sich ins feuchte Gras; verschnauften.
Der Himmel war trüb und dunkel, so dass keine Sternenlichter zu sehen waren - nur der Mond, der mit seinem fahlen Licht den dicken Wolken, die an ihm vorüber zogen, in verschiedenen Grauschattierungen Volumen gab.
Die durchtränkten Fasern und Nähte der Gefängniskleidung waren an vielen Stellen aufgerissen und ihre Schuhe und Hosen waren bis zu den Knien mit feuchter Erde bedeckt, die im Mondlicht glänzte.
„Wie spät ist es?“ fragte Martin, dessen Atmung sich langsam beruhigte.
„Keine Ahnung.“ gab Jens zurück „Drei, vier, fünf – es kommt mir vor, als wären wir eine Ewigkeit durch den Wald gerannt.“ „Hm…“ grummelte Martin „Und wie lange werden wir brauchen, um die Alpen zu passieren?“ Jens zögerte zu antworten, als ob er die Zeit erst berechnen wolle: “Ich schätze, dass wir Morgen irgendwann Slowenien erreichen.“
„Denkt an die Sonne Italiens, Jungs!“ hakte Chacko ein, um sich und den anderen, doch vor allem sich selbst Mut zu machen.
Martin lehnte seinen Kopf an den großen Baumstumpf und schloss für einen Moment die Augen, um sich auf den Weitermarsch vorzubereiten. `Die Sonne Italiens` wiederholte er in Gedanken Chackos Worte, die für ihn den staubigen Beigeschmack von Pauschaltourismus hatten. `Nur noch fünf Monate hätte ich absitzen müssen und jetzt sitze ich hier in der Scheiße - womöglich noch mit Schwerkriminellen, Mördern, Vergewaltigern oder Kinderschändern.`
Er setzte sich wieder aufrecht und sah Jens zu, wie er mit beiden Händen prüfte, ob seine Beinschiene verrutscht war; dabei zog er die Knoten der Stofffetzen, die die Schiene hielten wieder fest, was von einzelnen Klacken der Handfesseln begleitet wurde.
Chacko erhob sich schwer: “Na los ihr Arschlöcher, ausruhen können wir, wenn wir über den Berg sind!“ sagte er in befehligendem Ton, so, als ob er sich in der Konversation, die er zuvor gegeben hatte, selbst viel zu freundschaftlich fand und diesen Missstand jetzt korrigieren wollte.
Jens und Martin folgten Chackos Willen, als ob sie in stiller Absprache beschlossen hätten, dass es besser wäre, ihm nicht zu widersprechen.
Als sie von der Stelle unter freiem Himmel wieder in den dunklen Wald liefen wurde der durch die Feuchtigkeit der Luft getragene Duft von Tannenharz wieder zu ihrem ständigen Begleiter.
Immer häufiger mussten sie kleineren und mittelgroßen Felsen, die auf ihrem Weg aus dem Boden ragten ausweichen.


Das sporadische Ausrutschen der nassen Schuhsohlen auf den blanken Felsstücken war ruckartiger und gefährlicher, als auf dem weichem Unterholz des Waldes sanft den Halt zu verlieren.
Der monotone Gang, der nur vom eigenen Keuchen und Knirschen der Schritte die Realität bestätigte, wurde unterbrochen als Martin bei einem Schritt nach vorne den Halt verlor und stürzte. Sein schmerzhaftes Stöhnen, als er mit dem Unterarm auf einen Stein schlug, ließ die beiden anderen zusammenfahren. „Diese verdammten Ketten!“ tönte es hysterisch fluchend aus ihm heraus. Der Schmerz des Aufschlages drang bis auf seinen Unterarmknochen.
Chacko packte ihn wortlos an den Kleidern und zog ihn wieder auf die Beine.
Es musste weitergehen – keine Zeit für Schmerzen. Martin hielt den Arm beim Gehen, der sich schlagartig grüngelblich und blau unter dem Hemd färbte.
Die Abstände der Bäume zueinander wurden größer, indem der steinerne Teppich der Welt auf den sie gingen, mehr und mehr an die Oberfläche drang. Grau und leblos stießen die Felsen durch den Boden und drängten die Bäume zurück.
So setzte sich ihr Weg fort, bis sie nach einer Weile den Waldrand erreichten. Chacko, der die Dreiergruppe anführte hielt eine ehrfuchtsvollen Moment inne als er hinauf sah.
Vor ihnen erstreckte sich der steinerne Sockel des Berges, den sie zu überwinden hatten.
Vereinzelt streckte noch ein Büschel Waldfarn seine dünnen Blütenblätter durch die Spalten der Steine und etwas Moos, das mit dem nach oben hin zunehmenden Massiv weniger wurde, wucherte verstreut auf einigen Brocken.
Der raue Fels schien in der Dunkelheit zu verschwinden, so dass der Berggipfel für ihre Blicke unerreichbar wurde.
„Lass…uns…Pause…machen…Chacko.“ hechelte Jens mit großen Abständen zwischen den Worten. Chacko deutete mit den zusammengeketteten Händen auf einen weiter oben gelegenen Felsvorsprung, der von einem darüber liegenden Block, wie ein Baldachin halb überdacht wurde.
Sie krackselten das Stück in den Berg hinein, wobei kleinere Steinchen, die ihre Schritte vom Boden lösten, wie ein Echo ihres Ganges klackernd den Berg hinunter murmelten.
Chacko hatte den Felsvorsprung als erster erreichte. Auf den Ellbogen robbte er zur Felswand, um sich zu setzen. Martin und Jens taten ihm gleich und setzten sich mit erleichterndem Stöhnen neben ihm. Unbequem rutschte Martin hin und her im Unvermögen eine bessere Sitzposition auf dem hartnäckig spitzen Stein zu finden.
Die drei Flüchtigen ließen ihre angestrengten Glieder verschnaufen.


„Diese scheiß Handschellen.“ brach es entnervt aus Chacko hervor, wobei er seine Hände mahnend in die Höhe hob. Er blickte Jens an: “Na los, versuch mal, ob Du sie mit dem Stein knacken kannst.“ Chackos Blick deutete auf einen mehrere Kilo schweren Gesteinsbrocken, der lose neben Jens lag. Jens packte den Brocken mit beiden Händen. Chacko legte die Kette seiner Handschellen auf eine der herausstehenden Spitzen vom Boden. Jens holte weit aus und ließ den Felsbrocken auf die Kette niederschmettern, was von einem dumpfen Geräusch der aufeinander schlagenden Steine und einem hellen Klirren, der zur Seite entweichenden Kette begleitet wurde. „Noch mal!“ befahl Chacko. Wieder nur dumpfes Tackern und helles Klirren.
Martin, der die Erfolglosigkeit der Operation voraussah, versuchte die Stimmung zu beschwichtigen: „Weshalb sitzt ihr eigentlich?“
Chacko war die Frage unangenehm – in seiner Gefängnisehre galt es als Tabu, danach zu fragen – er knurrte mürrisch.
Martin wendete sich an Jens: „Was ist mit dir, Jens?“
„Ach, meine Ex-Frau hat mich aufs Kreuz gelegt…sie und ihr Liebhaber.“
„<DEPPENACCENT> doch mal?“ forderte ihn Martin auf. Jens holte erneut mit dem Felsbrocken in den Händen aus, hielt ihn drohend über seinen Kopf und schmetterte ihn dann in der nächsten Bewegung auf Chackos Handschellen, was das natürliche Poltern aufeinander schlagender Steine mit dem unnatürlichen metallischen Klimpern der Ketten verband.
„Ach…“ stöhnte Jens abweisend, wie jeder, der sich einer solchen Frage stellen musste.
„Sie haben mich wegen Körperverletzung verknackt. Ihr neuer Freund wurde vor ihrer…“
Er zögerte, holte wieder mit dem Stein aus und sprach dann lauter und erregter: „Vor unserer Wohnung zusammengeschlagen.“ wieder durchdrang das archaische Steinschlagen auf den Edelstahlketten die Stille der Abgeschiedenheit.
„Sie sagen…“ fuhr er fort, indem er den Stein wieder anhob „Sie sagen, ich würde zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigen.“ erneut knallte er den Felsbrocken auf Chackos Handschellen mit zunehmender Verzweiflung, diese brechen zu können.
„Und, warst <DEPPENACCENT>?“ fragte Martin in ruhigem Ton weiter. Jens hielt die Hände still, ohne den Felsbrocken los zu lassen, fast schrie er: “Nein, verdammt, ich <DEPPENACCENT> nicht!“
Martin verstand <DEPPENACCENT> Signal, jetzt besser aufzuhören, weiter zu bohren – er hielt den Mund - eine Weile, und sagte dann: „Bei mir waren es die verdammten Behörden.“
„Ich konnte die Rechnungen nicht mehr bezahlen und mit jeder Mahnung wurde es mehr und mehr Geld, das sie wollten.“ Martin machte eine kurze Pause beim Sprechen „Sie sagten entweder bezahle ich oder gehe in den Bau.“


Chacko fing an zu lachen: „Du bist wirklich die ärmste Sau von uns allen.“ lachte er Martin entgegen und schien sich laut grunzend, vor Amusement kaum noch halten zu können. Jens stimmte in Chackos aufdringliches Gelächter ein, ein wenig, um ihm zu gefallen, doch auch weil es gut tat, für einen Moment die Strapazen zu vergessen, denen sie ausgeliefert waren.
Martin verzog zuerst sein Gesicht, doch ließ er sich alsbald von den beiden anstecken und lachte ebenfalls über sein vermeintliches Verbrechen.
Ausgiebig genossen sie den warmen Moment der Ausgelassenheit und indem sie immer weiter lachten, verschwand die bedrohliche Stille der Berge für einen kurzen Moment zurück in die Düsternis.
Chacko wischte sich mit dem Hemdsärmel den Speichel aus den Mundwinkeln, als ob er gerade üppig gegessen hatte: “Wisst ihr, ihr seid zwar dumme Arschlöcher, aber ich kann euch gut leiden. Wenn wir in Italien sind rufe ich meine Leute an, damit sie mir mein Erspartes schicken. Ich kann meinen Leuten trauen.“ sagte er stolz. „Ich habe vierhundert Mille in meinem Schließfach im Studio gebunkert, euch wird es an nichts fehlen, wenn ihr bei mir bleibt…und das Beste ist, dass mir niemand den Schlüssel zum Schließfach klauen kann…“ Chackos Mine wurde ernst und bedrohlich; er beugte sich vor und sah jedem abwechselnden direkt in die Augen, dabei tippte er sich mit seinem wurstigen Zeigefinger unablässig an seine Schläfe „…der Schlüssel ist nämlich hier oben!“ „Hier oben drin.“ bekräftigte er theatralisch sein Geschick.
Jens und Martin sagten nichts. So saßen die drei noch einige Zeit still beieinander, bis sich Chacko, vom Kettenrasseln begleitet, erhob, um mit den anderen weiter den Berg hinaufzusteigen.
Die kleineren Hindernisse, die sich ihnen im Wald entgegenstellten, wurden am Berg durch unüberwindbare Felshänge abgelöst, die nur weiträumig umgangen werden konnten.
Je näher sie dem Bergkamm kamen, desto beschwerlicher wurde der Weg. Die zunehmende Erschöpfung und der harte Untergrund forderte von ihnen den eisernen Willen weiterzugehen und nicht kehrt zu machen.
Ihr Weg endete unweit vom Gipfel vor einer steilen Felswand, die ohne Bergsteigerausrüstung nicht zu bezwingen war. Jetzt gab es nur noch den Rückmarsch.
Fragend sahen sie sich an und erkannten die Verzweiflung in ihren Antlitzen.
Niemand wollte zurück ins Tal, doch der Fels setzte all ihrem Hoffen nach Freiheit und Wohlstand ein unerbittliches Ende. Selbst Chacko stand ohnmächtig ins Tal blickend, in einem Abgrund gefangen, aus dem es kein entrinnen gab. Er wurde nervös, wie ein Tier, das man in freier Wildbahn gefangen hatte und jetzt in einen Käfig sperrte. Er lief entlang der Felswand ein Stück zurück, dann wieder nach vorne zu Martin und Jens, die immer noch am Rande des steinigen Pfades ins Nirgendwo standen.


Chacko griff mit beiden Händen nach einem kleinen Felsvorsprung in der Felswand.
Indem er seinen rechten Fuß in einer Spalte verankerte, konnte er sich abstützen und mit überraschender Gelenkigkeit seinen massigen Körper an der Wand nach oben ziehen.
Suchend sah er nach einer Lücke im Fels, die seinem nächsten Griff Halt geben konnte.
Die Handschellen hinderten ihn daran, die Arme einzeln zu benutzen, so musste er schnell von einem Halt zum nächsten übergreifen, um nicht abzustürzen.
Er zog die Beine nach und stützte sich wieder auf seine Zehenspitzen an der Felswand, damit er den nächsten Griff machen konnte.
Jens und Martin starrten auf die behäbige Akrobatik, mit der sich Chacko, wie ein Gorilla, die Felswand hoch hangelte.
Nach wenigen kurzen Metern an der senkrechten Wand, zog er seinen Körper auf die höher gelegene Schräge des Steinmassivs.
„Was ist?“ rief Chacko von oben den anderen zu. „Wartet ihr auf schöneres Wetter?“
Martin kletterte zuerst an der Felswand hoch. Er hatte alle Mühe, dieselben Stellen wie Chacko zu greifen, da er um einiges kleiner war als er. Dicht hinter ihm folgte Jens, der wegen seines steifen Beins jedoch einen knappen Meter über dem Boden nicht weiter kam.
„Ich kann nicht weiter!“ rief Jens den anderen zu. Chacko legte sich weit über den Rand der Schräge, um nach der Kette von Martins Handschellen greifen zu können. Nachdem er Martin, der noch an der Wand hing, fassen konnte, rief er Jens zu, er solle versuchen sich an Martins Bein festzuklammern. Jens zögerte; wenn er mit den Händen los ließ, würde er fallen.
Martin, der den Halt spürte, den Chacko ihm von oben gab, streckte Jens sein Bein entgegen.
Jens musste mit einem mal von der Felswand loslassen und Martins Bein packen, bevor er hinunterstürzen würde. „Na los Jens, Du schaffst es.“ ermutigte ihn Martin und streckte sein Bein angestrengt einige weitere Zentimeter in <DEPPENACCENT> Richtung.
Jens war zumute, als müsste er vom Drei-Meter-Brett in ein leeres Schwimmbecken springen.
Mit einem Ruck stieß er sich mit den Händen von der Felswand ab und reckte sich dabei, um nach Martins Fuß zu fassen. Chacko wurde ein Stück weiter über den Rand gezogen, als sich die Menschenkette um ein weiteres Glied beschwerte. „Hab dich!“ drückte er angestrengt durch sein Lippen.
Chacko robbte langsam über den Felsvorsprung zurück und zog dabei Martin über die Klippe.



Als Martin ebenfalls das schmale Plateau in der senkrecht verlaufenden Wand erreicht hatte, griffen er und Chacko nach <DEPPENACCENT> Armen, um ihn nach oben zu ziehen.
Die scharfkantigen Steine schürften lange Risse in die Kleidung und blutige Wunden in die Haut.
Nach einer kurzen Verschnaufpause sah sich Martin nach eine Pfad bergauf um. „Verdammt noch mal, Chacko!“ stieß er zornig hervor „Hast Du dich jier mal umgesehen?“ Chacko schaute verdutzt die Steilwand nach obe, aus der der Felsvorsprung ragte, auf dem sie festsaßen. Es gab keinen Weg mehr, nur Felswände – mehrere Mannslängen hoch bis zum nächsten Absatz.
Jens saß immer noch keuchend auf dem schmalen Felsstück, jetzt erkannte auch er die aussichtlose Lage und blickte ruhig, verzweifelt, aber ruhig nach unten.
„Das schaffen wir schon.“ belog sich Chacko. „Wie verdammt noch mal sollen wir da hoch? Es ist zu steil!“ Martin war außer sich, dass nach all den Anstrengungen ihr Weg hier enden sollte.



Teil 2 folgt morgen Nachmittag auf ( und als ) oehm... test.
MacMurphy
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Beitrag von MacMurphy »

Über alle Berge

Teil 2

Chacko trat an Martin heran und packte ihn wild mit der Handschellenkette klappernd am Kragen: „Wir schaffen das! Kapiert!“
Martin, der immer noch wütend war, schnickte mit dem Kopf zu Jens, der teilnahmslos auf dem Fels saß: „Und er? Wie soll er das schaffen?“
Darauf wusste Chacko keine Antwort; nur um den Ausgang des Streitgesprächs zu bestimmen, entgegnete er Martin: „Na und…den wird ich tragen, wenn Du Magerwurst ihn trägst, werden wir es bestimmt nicht schaffen.“
Um Martins Widerrede zu entgehen packte er Jens an den Armen und legte sie sich, wie Riemen eines übergroßen Rucksacks, um die Schulter. Sogleich fing er an mit Jens auf dem Rücken die Wand hoch zu krackseln. Diesmal konnte er mit seinen Händen nur Zentimeterweise den Fels nach Halt absuchen, die Hände nur soweit voneinander entfernen, wie sich die Kette spannen ließ.
Nachdem Chacko es bald zwei Meter über den Boden geschafft hatte, schloss sich ihm Martin an und begann ebenfalls an der Wand hochzusteigen.
Nachdem sie den halben Weg bis zum nächst größeren Felsvorsprung am blanken Stein hängend zurückgelegt hatten, verließen Chacko seine übermenschlichen Kräfte. Sein dicker Kopf war in purpur gefärbt und glänzte
von Schweißströmen, die ihm über das Gesicht liefen. „Chacko? Kannst Du noch?“ fragte ihn Jens ängstlich und leise ins Ohr. Chacko reagierte nicht – er hing nur da und hielt sich mit letzter Kraft an den spärlich verteilten Vorsprüngen an der Wand, die kaum größer als Streichholzschachteln waren.
„Chacko? Geht’s noch?“ flüsterte Jens wieder, doch Chacko gab nur eine unverständliche Kombination von Wortfetzen von sich, die ihm gerade durch den ins Abseits geratenen Sinn schossen. Er setze sich wieder wie mechanisch in Bewegung, zischte etwas durch seine Lippen, griff wieder einige Zentimeter nach oben, mit der Hand blind den Stein absuchend.
Wie eine leblose Maschine zischte er zwischen den Bewegung. „Ja, Chacko, nur noch fünf Meter.“ ermutigte ihn Jens. Martin, dem ebenfalls die Strapazen ins Gesicht geschrieben standen, folgte wortlos. Wieder Wortfetzen, auf die Jens nur ermutigend reagieren konnte: „Nein, Chacko es sind nicht mehr sieben, nur noch vier Meter.“
Unendliche Minuten, tagelange Stunden zehrten Sinn und Verstand aus ihren Körpern – doch endlich hatten sie die spitze Oberkante der Felswand erreicht, schleppten sich in einem letzten Aufbäumen darüber, um ihren Körpern dem aussichtslosen Kampf gegen die Schwerkraft sicher zu übergeben.
Chacko und Martin lagen auf dem Fels und keuchten heftig. Jens zog sich von Chackos Rücken und beobachtete, wie sich die Brustkörbe der beiden hoben und wieder senkten, wie bei Fischen, die an Land nach Luft schnappten schien den beiden alles Menschliche zu entweichen.
Jens schaute weiter den Berg nach oben.


Der Steilwand folgte ein Abhang, in dem eine Schneise, wie ein ausgetrocknetes Flussbett, mehrere Straßen breit, bis zu den Gipfeln führte. Im Zwielicht des anbrechenden Tages forderten Hunger und Ausgezehrtheit nach Rast, bevor sie ihren Weg fortsetzen konnten.
Ein kalter Fön drang durch die Felsspalten pfeifend zu den drei Flüchtigen, die sich frierend an dem Gefälle zusammenkauerten. Zwischen dem sanft keimendem blau des Himmels und der undurchdringlichen Dunkelheit im Tal stießen alle drei, wie Dampflokomotiven, kondensierenden Atem aus ihren Mündern.
Die Luft wurde dünner; das Atmen schwerer.
Jens rieb sich an Chackos Rücken, um sich aufzuwärmen. Chacko saß teilnahmslos auf dem steinigen Boden und reagierte nicht darauf - er war zu müde und erschöpft, um sich noch sinnlose Anstrengungen aufzubürden. Er schloss seine Augen und begann schnaubend durch die Nase zu atmen.
„Nicht einschlafen!“ rüttelte ihn Martin wieder wach. „Wir müssen uns hier oben wach halten, sonst werden wir hier erfrieren und den Morgen nicht mehr erleben.“
Chacko wackelte benommen mit dem Kopf, wie ein Betrunkener: „Was ist?“ gab er benommen von sich, als ob er nicht mehr wüsste, wo er sich befand. „Nicht einschlafen!“ wiederholte Martin, diesmal ohne ihn zu schütteln.
Martin verschränkte seine Arme und rieb seinen Körper, so gut er es mit den verketteten Händen tun konnte, um sich aufwärmend der eisigen Luft zu trotzen.
„<DEPPENACCENT> was, irgendwas!“ sagte er zu Chacko, der daraufhin wieder nur unartikuliertes Brummen und Schnaufen von sich gab. Um Chacko weiter wach zu halten warf er ihm spontan Fragen an den Kopf, die ihm gerade in den Sinn kamen: „Weshalb sitzt Du nun, Chacko? Hast Du jemanden umgebracht?“
Jens drehte neugierig seinen Kopf auf Martin. Chacko hörte auf, sein Unwohlsein vor sich hin zu nuscheln.
Konzentriert warteten Jens und Martin eine Antwort ab.
Chacko stöhnte unbequem, bevor er zu erzählen begann: „Das Schwein hatte es nicht besser verdient.“ erklärte er in der aufbrausenden Art, die ihm eigen war.
Martin freute sich, dass niemand mehr ans Schlafen dachte und fragte neugierig weiter: „Was ist passiert?“


Chacko: „Es ging um Linda, sie hat damals noch für Messer-Charlie angeschafft.“ er machte eine Pause, weil er es nicht gewohnt war von sich zu erzählen „Sie wollte nicht mehr so, wie Messer-Charlie wollte, da hat er sie auf eine glühende Herdplatte gesetzt - hat ihr den ganzen Arsch versengt!“ der Neugierde wich fassungslose Entrüstung „Wie verdammt soll sie mit einem versengten Arsch anschaffen gehen – es gibt nicht genug Perverse in der Stadt, von denen sie sich ernähren könnte.“ die Entrüstung blieb und setzte sich. „Linda kam zu mir. Sie hat mir ihre ganzen Ersparnisse geboten, über 2000 Euro - ich sollte meine Leute auf Messer-Charlie ansetze, damit sie ihn fertig machen. Ich hab zu ihr gesagt, dass sie ihr Geld wieder einstecken soll und ihr einen Job hinter der Bar von meinem Club gegeben. Jeder in der Stadt weiß, dass Messer-Charlie seine Hunde besser behandelte als seine Frauen. Ich <DEPPENACCENT> damit gerechnet, dass er früher oder später aufkreuzen würde.“ Chackos Stimme wurde ruhiger, fast sanft, als er weiter sprach „Er kam mit zwei seiner Schläger in meinen Club und wollte Linda abholen. Als ich ihm sagte dass er verschwinden soll, wurde er wütend und zog sein Messer - vor meinen Gästen!“ „Verdammt, jeder weiß, dass ich in meinem Club keine Waffen dulde. Als er sich auf mich stürzen wollte, <DEPPENACCENT> ich seinen Arm gepackt, doch ich war zu langsam – er hatte mich mit dem Messer schon erwischt. Totschlag im Affekt haben sie später gesagt - tot ist tot, wenn ich es nicht getan hätte, hätte ein anderer Messer-Charlie von der Platte geputzt.“
Chacko schwieg und blickte unruhig in Jens und Martins entsetzte Gesichter, die, als ob sie die Luft anhielten, plötzlich keinen weiß kondensierten Atem mehr ausbliesen.
„Glaubt ihr, ich erzähl euch Scheiß?“ brauste sich Chacko wieder auf. Er zog mit beiden Armen sein größtenteils zerrissenes Gefängnishemd hoch, um den vermeintlich Ungläubigen die Stichwunde von Messer-Charlies Stilett zu zeigen, eine kleine, nur daumenbreite Narbe unter seiner linken Brustwarze. Als seine Zuhörer auf die blanke Brust starrten, wich dem Entsetzen über das gerade Gehörte ein unbestimmtes Gefühl von Dumpfheit, das Jens ein freudloses Grinsen abverlangte und Martins Gesicht, wie in einer Spastik verharrend einfror.
Es war nicht die kleine Narbe, die sie anstarrten, sondern die Tätowierung, die sich vom Hals bis zur Gürtellinie über Chackos Brust erstreckte. Sie zeigte in weichen Pastelltönen ein Bildnis der Jungfrau Maria, wie sie in ihren Armen das schlafende Jesuskind hielt. In weichen Falten zeichnete sich ihr hellblauer Schleier über Chackos Brustkorb. Sanft neigte die Jungfrau Maria ihr Haupt und blickte mit gütigem Blick auf das friedlich schlafende Kind, das in hellen Leinen gehüllt in ihren Armen lag. „Dem verdammten Schwein habe ich das Genick gebrochen!“ tönte es aus Chacko heraus und um den Vorgang zu veranschaulichen, ließ er seinen rechten Ellbogen, der wie der Flügel eines Vogels gespreizt war, während er sein Hemd oben hielt, mit einem klatschenden Geräusch auf seinen mächtigen Brustkorb schmettern.
„Genug geglotzt.“ beendete er abrupt seine Geschichte und zog das Hemd wieder über seinen Bauch.
Es dauerte eine Weile bis Martin das nachdenkliche Schweigen unterbrach: „Lasst uns weitergehen, wir sind bald oben.“


Sie rafften sich auf, um den Marsch in den Morgen hinein fortzusetzen.
Ihr Weg führte sie über das steinige Gefälle weiter in den Berg hinein. „Ein Gewitter zieht auf.“ kommentierte Martin ein entferntes Grollen, das von den Gipfeln raunte. Als das Donnern lauter wurde blieben die drei wie angewurzelt stehen. Ein kalter Schauer lief ihnen über den Rücken, als sie erkannten, dass es sich bei dem immer lauter werdenden Geräusch nicht um ein Gewitter handeln konnte. Der Berg schien mit furchtbarem Getöse auf die unfreiwilligen Kletterer zu reagieren und sandte ihnen eine tonnenschwere Steinmauer entgegen, die sie zermalmen sollte. Jetzt sahen auch die Flüchtigen die gigantische Staubwolke, die sich wie eine graue Schlange, der große Furche im Hang folgend hinunter bewegte. Als ob die Steinschlange die drei erspäht hatte, wechselte sie mit dem Verlauf der breiten Furchen die Richtung und stürzte geradewegs auf die Gefangenen zu.
„Lauft!“ schrie Chacko den anderen zu, während er kehrt machte und eilig den Abhang hinunter stolperte. Jens konnte sich kaum vom Anblick der haushohen Steinlawine lösen, die über alle Unebenheiten des Berges hinweg unaufhaltsam auf ihn zu rollte. Nie zuvor hatte er eine solch gigantische, undurchdringliche Wolke gesehen. Chacko ahnte, dass sie den hunderten Tonnen Stein, die die Wolke in sich barg und über den Berg schleuderte, nicht das Geringste entgegen setzen konnten. Als Chacko mit einigen Sprüngen zurück Jens erreicht hat, riss er an seinem Arm und ihn aus der Erstarrung, so dass beide fielen. Die Luft um sie herum wurde bereits staubig-trocken. Martin eilte, umgeben von ohrenbetäubendem Getöse, zu den am Boden liegenden, um ihnen auf die Beine zu helfen, doch es war bereits zu spät. Der hundert Meter breiten Front der Steinlawine ins Antlitz blickend zog Chacko Martin unter seinen schweren Körper unter dem er schon Jens schützend hielt und richtete sein breites Kreuz der Lawine, die über sie hereinbrechen würde, entgegen.
Wie hinter einem Schutzwall aus Fleisch kauerten Jens und Martin an Chackos Bauch und Brust. Chacko hatte seine Finger ineinander geharkt und seine Arme um Martin gelegt, um ihm mehr Deckung geben zu können, als die ersten Steine auf sie einschlugen.
Der alles umschließende Staub graute die Haut und Kleidung ein, brannte in den Augen; der Boden bebte und schien sich wie ein kalter Lavafluss langsam zu bewegen. Chacko hielt der ersten Welle von kleinen Steinchen, die springend und tanzend von der Lawine vor sich hergetrieben wurden, stand. Die Luft war so von Staub durchsetzt, dass man sie schneiden konnte. Chacko und auch die anderen unter ihm kniffen die Augenlider zusammen. Die Lawine stürzte weiter über die Menschen hinweg und warf immer größere Steine auf Chacko, der die Einschläge auf seinen Körper mit kurzem Schnauben beantwortete, wie ein Boxer, der die Hiebe seines Gegners wegsteckte. Stumpfe und spitzkantige Geröllbrocken rissen tiefe Wunden auf seinen Rücken und übersäten ihn mit anschwellenden Blessuren. Chackos Kopf kippte mit jedem Einschlag größerer Gesteinsbrocken nach vorne, doch als ob er den blanken Steinen trotzen konnte, spannte er sein Genick und hielt den Kopf wieder gerade. Martin blieb fast die Luft weg, so fest pressten ihn Chackos Arme an seine Brust. Martin blinzelte, sah Chackos ineinander greifende Hände, seine gekreuzten Daumen, Blut, das mit grauem Staub vermischt dickflüssig aus Chackos Haaransatz heraus über seine Stirn rann. Er schloss wieder seine Augen und bald hörte er nicht mehr das laute Poltern der Steine oder das stoßartige Keuchen seines Beschützers, nur noch Chackos Herzschlag, der stetig pochend ein autarkes Leben, geschützt vom Fleisch bekundete.


Im immer wiederkehrenden Rhythmus heran brechender Tage eines Lebens, pochte das Herz die Sekunden.
Martins Angst wich, denn es war nicht mehr sein Herz, sein Leben, dem er sich hingab, es war Chackos Herz, dem er mit dem Ohr an Chackos Brust gepresst folgte.
Martin lächelte in die Unwirklichkeit seiner Umgebung, blickte auf Chackos Gesicht, das rot war vor Schmerz, in Blut und Schmutz getränkt, angestrengt, mit zusammengekniffenen Augen die Luft anhaltend – er versuchte sein Leben in sich zu behalten, nicht auszuatmen, auch wenn die Steinmassen, der Berg, der sein Leben bestimmen wollte, ihn dazu zwang. Martin lächelte, denn er hörte das Schlagen ihres gemeinsamen Herzens, bis es verstummte.
Als das Donnern der Lawine schwächer wurde und sich die zuvor vibrierende Luft beruhigte, löste sich Martin von Chackos warmen Körper erst, als Jens an ihm rüttelte: „Martin? Martin?“ klang <DEPPENACCENT> besorgte Stimme. „Martin? Martin?“ wieder sanftes rütteln, wie aus einem Traum erwacht kroch Martin unter Chackos Körper hervor und rieb sich, wie beim morgendlichen Aufwachen, den Schlaf einer Nacht und gleichzeitig den Staub aus den Augen.
Beide sahen auf Chacko, der sich nicht rührte. Martin kniete sich vor den am Boden liegenden Körper und strich ihm, in einer letzten Geste, das Blut und den Staub aus dem Gesicht.
Friedlich und unbekümmert, wie er an Italiens Stränden liegen wollte, ruhte er sich von den Strapazen aus, die ihm der Berg auferlegt hatte. So ließen ihn Martin und Jens zurück, hörten im Tal die weiter ziehende Lawine, die ein leises Echo versteinerter Schreie davon trug, rieben sich den Staub aus dem Gesicht und von der Kleidung und setzten still ihren Weg über den Berg fort.

Die Morgenröte der im Osten aufgehenden Sonne hatte erst die Bergspitze erreicht, doch so führte sie ihr Weg aus der Dunkelheit ins Licht. Sie sprachen kaum miteinander, dachten auch nicht mehr an Chacko und auch nicht an sich selbst, nur daran, den Berg zu überwinden, was sie alle Kraft kostete, die sie aufbringen konnten.
Durch enge Felsspalten hindurch und über bizarr geformte Felsformationen wurde die Umgebung in der Höhe immer befremdlicher, einsamer - kalt.
Jens vertrug die Höhenluft nicht sehr gut und musste sich mehrmals beim Gehen übergeben.


Die Erschöpfung brachte nicht nur ihre Körper an seine Grenzen, auch zwang sie ihre Konzentration, ihre Gedanken zu ruhen. <DEPPENACCENT>´ schoss es Martin durch den Kopf, <DEPPENACCENT> <DEPPENACCENT>. Jens, der hinter ihm lief und versuchte Schritt zu halten, brach auf dem kalten Stein zusammen. Martin ging weiter. „Jens?“ bemerkte er kurz darauf, dass er alleine war. Er lief zurück. Jens hatte sich wieder übergeben und saß zurückgelassen schluchzend in der Öde der Bergspitzen. „Jens?“ fragte Martin wieder, als er sich zu ihm kniete. Jens hielt die verketteten Hände vor seinen Bauch und weinte. „Ich bereue!“ schrie er Martin ins Gesicht „Verdammt, ich bereue es! Ich wollte ihn umbringen!“ Martin beruhigte ihn: „Schon gut. Schon gut Jens, komm wir müssen weiter.“ „Sie wollte mich nicht mehr zu sich lassen. Sie wollten mich nicht mehr meinen Sohn sehen lassen!“ rief er unter Tränen und Magenkrämpfen dem Berg entgegen, der nur mit hastig pfeifenden Wind durch seine zerklüfteten, rauen Spitzen antwortete. „Schon gut Jens. Komm.“ Martin packte Jens am Arm, um ihm wieder aufzuhelfen. Er bemerkte, dass sein verletztes Bein auf das doppelte seiner normalen Größe an der Bruchstelle angeschwollen war. „Komm Jens, wir haben es bald geschafft.“ redete Martin sanft auf Jens ein, dem zwischen erbärmlichen Schluchzen immer wieder dicker, gelber Magensaft aus den Mundwinkeln lief. Martin legte, wie Chacko es tat, als er ihn die Steilwand hinauf schleppte, Jens Arme über seine Schultern und trug ihn auf dem Rücken weiter zum Gipfel. Leblos schleiften Jens Füße über den Stein.
Martin, der nicht mehr auf <DEPPENACCENT> Schluchzen reagierte bemerkte kaum, dass sie den Gipfel erreicht hatten, doch als sein Blick vom Boden weg eine tief klaffende Schlucht wahrnahm, stoppte er und ließ Jens von seinem Rücken gleiten. „Jens, Jens!“ sprach er freudig erregt zu ihm „Jens, sieh mal, wir haben es geschafft.“ Jens blickte mit seinen Tränen erröteten Augen auf und sah den plötzlich abfallenden Fels hinunter. „Sind wir in Italien?“ fragte er geistesabwesend „Ist das dort Italien?“ sprach er wie vor sich hin, als die Morgensonne über dem Gipfel der Welt ihre Strahlen, wie sphärische Fühler ausstreckte, um die Erde zu berühren. „Italien.“ bestätigte sich Jens. „Nein, nein Jens, das ist noch nicht Italien, aber das ist die Freiheit.“ „Freiheit.“ bestätigte sich Jens und neigte seinen Blick auf die Handschellen, die seine Arme aneinander ketteten.
Als er seinen Kopf wieder anhob und Martin, der neben ihm saß, anschaute, schien sein Blick glasklar. „Du musst etwas für mich tun, Martin.“ „Ja, klar, später, okay?“ „Nein, jetzt!“ widersprach Jens in einem Ton, den Martin zusammenfahren ließ. „Mein Anwalt in München heißt Klärborn – Du musst zu ihm!“ Martin schaute Jens verdutzt an „Klärborn, hast Du verstanden. Er wird sich um meine Lebensversicherung kümmern. Das Geld ist für meine Frau und für meine Jungen.“ als ob er über das nachdachte, was er zu Martin sagte, sprach er zu sich selbst „Er soll keinen Vater haben, der im Knast sitzt – er ist doch noch so klein.“


Jens sprach hektisch weiter: “Und <DEPPENACCENT> dir diese Nummer: 4 - 7 - 3 - 3 – 1, ich glaube es ist die Kombination von Chackos Schließfach, er hat die Nummer immer wieder wiederholt, als er mich auf dem Rücken über den Berg trug.
Das Schließfach ist in seinem Fitnesscenter. Dort ist das Geld, das Chacko zur Seite gelegt hat. Du musst zurück Martin!“ „WAS! Zurück? Bist Du verrückt?“ „Du musst zurück Martin.“ „Du musst meiner Frau und meinem kleinen Jungen sagen, dass ich sie liebe, Martin.“ Jens robbte zum Abgrund „Sag ihnen, dass ich sie liebe.“ er sprang.
„Jens!“ Martin hechtete an die Stelle, an der Jens eben noch saß. Als er hinunter blickte sah er Jens leicht wie ein Vogel davon schweben. Der Höhenwind trug den immer kleiner werdenden Mann auf seinen unsichtbaren Schwingen, bevor ihn der harte Fels ganz unten auffing. Von oben sah er winzig aus wie ein Insekt, dessen nichtiges Leben mit menscheneigener Gleichgültigkeit verschlissen wurde. „Jens!“ rief Martin in die Schlucht „Jens!“ hallte der Berg sein Echo zurück.
Martin konnte nur noch flüstern: „Verdammt, lass mich nicht alleine…“
Seine letzten Worte schossen ihm durch den Kopf, zermarterten ihn. Martin sah sich suchend um, niemand da, nur Stein. Er stand auf, lief ziellos auf der Bergspitze herum. Abgründe auf beiden Seiten. <DEPPENACCENT>´ dachte er immer wieder <DEPPENACCENT>´ brannte sich in sein Hirn und ließ ihn verzweifeln. Er schrie so laut er konnte, dann lief er los, hinunter, bergab in den Abgrund aus dem er emporgestiegen war.
Das zaghafte Licht des anbrechenden Tages war sein einziger Begleiter auf dem steinigen Pfad nach unten. Seine Gedanken kapitulierten – er dachte an nichts mehr, nur an das, was hinter ihm lag und an <DEPPENACCENT> kleinen Jungen, den er weder kannte, noch jemals zu Gesicht bekam.
Wie im Wahn stolperte er über das Gefälle hinunter, reiste in Gedanken zurück.
„Höher Papa, höher.“ hörte er seine eigene kindliche Stimme, die ihm fremd, fast unbekannt war. Martin rutschte, fiel auf den blanken Stein, der seiner Kleidung weitere Risse beibrachte, deren ausgefransten Ränder feucht wurden und sich rot färbten. Er dachte an weichen Sand, der goldglänzend in der Sonne funkelte; an einen Spielplatz und eine Schaukel, auf der er hin und her schwang. „Höher Papa, höher!“ rief er, ohne seine Lippen zu bewegen. Wenn er fiel, würde er weich im Sand landen. Der Aufwind wehte kitzelnd über seine Stirn. Sein dünnes Haar bäumte sich vor und zurück, mit jedem Mal, das ihn sein Vater anschubste. „Höher, höher.“ lachte er den Wind an und freute sich, wenn die Haarspitzen seine Stirn streiften.
Er sprang durch die Felsspalten, die ihm harte Tritte gaben als er an ihnen vorbeischlitterte. Wieder den Boden unter den Füßen rannte er weiter, wie von selbst – der Abgrund zog ihn hinunter. Von weitem sah er Chacko, der selbst zu Stein geworden war, von Blitzen aus dem Berg gemeißelt, von den Winden abgeschliffen, kniete seine felsgraue Statur am Hang – betend.
Martin lief, kletterte rückwärts die Steilwand hinunter, stürzte ab und schlug mit der Seite auf.
Ihm wurde dunkel. „Eine Geschichte, eine Geschichte, Papa.“ rief er seinem Vater zu, der ihn ins Bett brachte, und zudeckte. Er las ihm immer etwas vor, damit er besser einschlafen konnte. Ihm war warm und wohlig unter der dicken Daunendecke – es dauerte nie lange, bis er einschlief.


Die Kälte schüttelte ihn als er zu sich kam. Er stand auf, versuchte zu gehen, doch ein archaischer Schmerz in seiner Brust ließ ihn zusammenbrechen – wieder wurde ihm schwarz vor Augen und er legte sich in sein Bett, zog sich die weiche Decke bis zum Hals und sah seinem Vater zu, wie er das Geschichtenbuch aufklappte.
Immer noch der Berg, als er wieder erwachte. Vorsichtig richtete er sich auf, zuerst auf seinen Knien. Er wollte sich an die Seite greifen, vermutlich hatte er sich eine oder mehr Rippen bei dem Sturz gebrochen, doch er konnte nicht recht - seine Hände waren in Ketten. Wieder stand er auf und hinkte weiter bis zu der Wand, die sich ihm und den anderen zuerst in den Weg gestellt hatte, als sie nach oben kletterten. Vorsichtig hängte er sich an den Klippenrand, er wollte nicht noch mal abstürzen. Als er seine Beine über den Rand brachte und herunterbaumeln ließ schrie er vor Schmerz, der in seiner Brust saß. Sein eigenes Gewicht, das er nur mit seinen Händen hielt schien ihn innerlich zu zerquetschen. Er schrie, doch der Schmerz blieb. Der Ohnmacht nahe verließ ihn die Kraft in seinen Fingern und er ließ los, stürzte wieder zu Boden auf den harten Stein und rührte sich nicht mehr.
Einige Spitzen, die aus dem Steinboden ragten, bohrten sich tief in seine Knie, zerrissen das Fleisch und stießen den Knochen – Martin spürte nichts mehr. Als er zu sich kam drehte sich die Welt, wie ein Spielplatz. Sein Vater schubste das Drehkarussell, auf dem er stand und sich festhielt. Seltsam verzerrt sahen die Bäume aus, die an ihm vorbeisausten. Die Welt drehte sich um ihn und er lächelte. „Halt dich gut fest, Martin.“ sagte sein Vater, als er dem Karussell wieder Schwung gab. Martin zog sich wie ein Tier ohne Beine über den rauen Stein. Als er absprang fing ihn sein Vater, damit er nicht stürzte. Er stand wieder fest. Sein Vater ließ los und so lief er hinkend in den Wald hinein. Er bemerkte nicht, dass seine Arme frei am Körper hingen. Das Schloss seiner Handschellen war gesprungen und seine Hände frei, doch Martin spürte nichts mehr. Als er den Waldrand erreichte fingen ihn die Bäum auf. Wie eine Boje in stürmischer See war sein Körper nur noch der Schwerkraft ausgesetzt, die ihn weiter nach unten zog. Er prallte an die Stämme. Die Äste schnitten sich in seine Haut, als er immer weiter nach unten lief. Als er auf einen abgebrochenen Ast trat, der aus dem Boden ragte
durchzuckte es seine gesamten Körper, er hatte nicht bemerkt, dass er einen Schuh verloren hatte und Barfuss über den Waldboden stolperte. Ein Baumstamm fing den Sturz ab und so ließ Martin seine Fußsohle bluten und ging weiter.
Als er auf den glatten Asphalt der Straße stieß verließ ihn seine Koordination und er stürzte wieder, blieb liegen.


Die laute Hupe eines Autos weckte ihn - „Papa?“, doch es war jemand anderes. Als er aufstand und sich auf die Motorhaube des Fahrzeugs stützte, begann der Mann, der im Inneren saß, hektisch zu telefonieren. Der Mann hatte einen Anzug an und trug eine Krawatte, das konnte er noch sehen, bevor der Wagen im Rückwertsgang seinen Halt entzog. Blutige streifen ließ Martin auf der polierten Motorhaube zurück, wieder stürzte er zu Boden, als er nichts mehr zum halten hatte. Der Wagen gab Gas und machte einen großen Bogen auf der Straße um Martin. Auf der Seite der Autos konnte Martin noch etwas lesen: „BZK“ in fetten Druckbuchstaben, darunter die Erklärung: „Bausparzentrum Klagenfurt“ dann in geschwungener Schrift der Firmenslogan: „Wir sind immer für Sie da!“ der Wagen fuhr mit Vollgas davon. Martin schloss wieder seine Augen.
Jemand in schwarz glänzenden Schnürstiefeln trat ihn. Als Martin blinzelte sah er zwei Polizisten, einen großen und einen kleinen mit dunkler Sonnebrille. „Sieh mal Manni.“ sagte der kleinere Polizist „Der muss aus dem neuen Gefängnis ausgebrochen sein.“ „Der ist ja fast tot.“ sagte der größere. „Hm.“ sinnierte der kleinere und fuhr mit zynischer Stimme fort:
„Ist wohl doch nicht so ausbruchsicher, wie sie behaupten.“ dann lachte er und der größere Polizist lachte ebenfalls, bevor er antwortete: „Eigentlich sollten wir ihn krepieren lassen. Dieser Abschaum kostet doch sowieso nur unsere Steuergelder.“ „Das kannst Du nicht machen, Manni, es sind doch auch nur Menschen.“ „Da musst Du noch viel lernen, Markus.“ antwortet er seinem Kollegen „Wenn Du in dieser Welt nicht hart bist, hast Du keine Chance.“
„Aber dir zu liebe werde ich den Krankenwagen anfordern.“ Manni ging zum Streifenwagen, um die Leitstelle anzufunken.
Martin verlor wieder das Bewusstsein – er würde es erst nach langer Zeit auf der Krankenstation des Gefängnisses wiedererlangen.


Jetzt, nachdem er seine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, stand er vor dem Fitnessstudio, in dem sich Chackos Schließfach befand.
Einladend stand in großen Lettern „Fit-for-fun“ über der elektrischen Schiebetür, die ins Foyer führte.
Gleich nachdem er in die Freiheit entlassen wurde – deren Freiheit –, setzte er sich mit <DEPPENACCENT> Anwalt in Verbindung, um das Versprechen, das er ihm gab, einzulösen.
Es war nicht leicht die Versicherungsgesellschaft zur Auszahlung der Lebensversicherung zu zwingen. Ohne Leichnam wollten sie nicht zahlen und so hat der Anwalt einen Hubschrauber organisiert, der eine Woche lang den Kamm der Berge absuchte, bis sie Jens gefunden hatten.
Es dauerte noch mal zwei Tage bis sein Körper, der in dreitausend Meter Höhe tief gefroren wurde, abgetaut war.
Schließlich zahlte die Versicherung die ganze Summe an <DEPPENACCENT> Frau; sie und ihr Sohn hatten das Geld dringend nötig, da, wie Martin von dem Anwalt erfuhr, ihr neuer Freund beide nach dem Prozess, der zu Jens Verurteilung führte, sitzen ließ.


Die Haftzeit, zu der Martin verurteilt wurde, verbrachte er zur Hälfte auf der modernen Krankenstation des neuen Hochsicherheitsgefängnisses in Klagenfurt - den Rest im Vollzug, was überraschend angenehm war, da sich schnell herumgesprochen hatte, dass er Chacko kannte und mit ihm die letzten Stunden seines Lebens verbracht hatte. Einer der Wärter hatte wohl die Aussage belauscht, die Martin zu Protokoll gab, und den Gefangenen von Chackos Tod erzählt.
Chacko kannte jeder im Gefängnis; die meisten zwar nur vom Hörensagen, doch vielen, denen er im Gefängnis drin oder draußen geholfen hatte, kannten ihn persönlich.
Es kursierten bald Gerüchte aller Art über Chackos ableben. Einige behaupteten, er würde noch leben und es sich in Italien gut gehen lassen, doch jeder war Martin dankbar, dass er seine Legende am Leben hielt. Die Häftlinge waren sehr direkt darin, ihre Dankbarkeit auszudrücken, indem sie Martin Schutz, Arbeitserleichterung und manche sogar ihre Fleischrationen des Gefängnisessens spendierten – Chackos Vermächtnis.
Niemand im Gefängnis wusste aber, was wirklich geschah und dass Chacko sein Leben geopfert hatte.
Jetzt stand Martin hier, vor dem Fitnessstudio in dem sich das Schließfach befand.
Er ging auf die getönten Scheiben der Schiebetür zu, so dass der Bewegungssensor über der Tür den dünnen Plexiglasscheiben Signal gab, sich mit kaum hörbarem Quietschen des Rahmengummis in der Führung, zu öffnen.
Kühl und merkwürdig steril schien der klimatisierte Vorraum, in dessen Mitte ein metallenes Rondell stand, in dem sich ein Computer, ein Telefon und eine junge Frau befand.
Martin trat an die Anmeldung.
Die junge Frau, die im Rondell saß und die Neuanmeldungen des Studios durchführte, saß, auf das Ende eines Kugelschreibers kauend, vor einem Anmeldeformular gebeugt. Sie hatte einen pinkfarbenen Body an unter dem sie schwarze, hautenge Leggings trug. Ihre dünnen solariumbraunen Arme waren unbekleidet. Wie zu einem Vogelnest geformt trug sie ihre Haare von einem Gummiband zusammengehalten. Ohne dass sie von dem Formular aufblickte, das ihre ganze Aufmerksamkeit forderte, klang sie in schrill-pubertärem Ton:
„Sie wünschen?“
„Ich möchte zu Chackos Schließfach. Ich soll etwas für ihn abholen.“
Der pinkfarbene Body spannte sich über ihren athletisch geformten Körper als sie aufblickte.
„Chacko? Der war ja schon lange nicht mehr hier, dabei hatte er es gerade geschafft, seine <DEPPENACCENT>-<DEPPENACCENT> in den grünen Bereich zu bringen.“ krächzte die junge Frau durch die Eingangshalle.
Martin presste seine Lippen zusammen und formte ein angestrengtes Gesicht.
Es vergingen einige Sekunden, in denen die Frau eine bestätigende Antwort von Martin erwartete, bis sie dann sagte: „Es ist gleich ganz vorne, obere Reihe links.“ und mit dem Kugelschreiber auf eine Tür deutete, auf der <DEPPENACCENT>´ stand.
Martin wandte sich wortlos von der Empfangsdame ab, um den Umkleideraum zu betreten.
Die Schließfächer waren in zwei Reihen übereinander angelegt. Die meisten standen offen.
In Gedanken wiederholte er, was er gerade in schrillem Ton gehört hat: <DEPPENACCENT> Reihe links.<DEPPENACCENT>
Die Fächer waren mit einem Codeschloss gesichert, dessen Zahlenfeld in einem glänzenden Metallrahmen eingelassen war.
Martin tippte die Kombination ein, die Jens ihm gesagt hatte. Das Codeschloss bestätigte seine Eingabe mit einer kleinen elektronischen Melodie, die jedem Ton eine Zahl zuordnete. Das Schloss klackte im Inneren.
Er packte den Griff der Schließfachtür mit seiner Linken. Bevor er das Fach öffnete, legte er seinen Kopf niedergeschlagen auf die Brust und schloss für einen Moment die Augen in Gedanken an das, was er erlebt hatte. Kein Leben war in Geld aufzuwiegen, kein Leben war mehr wert, als das eines anderen und doch gaben sie ihres für seins.
Er öffnete die Spindtüre, griff nach der Sporttasche und zog sie aus dem Fach.
Wortlos, gefühllos wie ein Vulkan verließ er den Umkleideraum, um zum Ausgang zu gelangen.
Als Martin das Foyer in Richtung der Schiebetür durchschritt, quiekte ihm die Empfangsdame noch etwas hinterher: „Beehren Sie uns bald wieder und achten Sie in Ihrem eigenen Interesse immer darauf, dass Ihre <DEPPENACCENT>-<DEPPENACCENT> im grünen Bereich ist.“
Martin nahm ihr Geschwätz nicht mehr wahr, er dachte nur an Chacko und an Jens, dessen Mission er immer noch im Herzen trug. Um sich angemessen vom „Fit-for-fun-Studio“ zu verabschieden, zischte er ein kaum hörbares „Arschlöcher!“ durch seine Mundwinkel.
Fest umschloss er den Griff von Chackos Sporttasche, so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden und als sich die getönten Scheiben der Pforte öffneten und Martin ins Freie in die gleißenden Lichtstrahlen der Mittagssonne trat, blickte er auf die Straße, die vor ihm lag, und als er die vorüber fahrenden Autos und die hektisch umherlaufenden Passanten sah, war dort nichts.


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Beitrag von mordsfilm »

Hätte ich darauf geachtet, WER das letzte Posting in der Übersicht hatte, ich hätte nicht...
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Beitrag von insideR »

dito
MacMurphy
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Beitrag von MacMurphy »

Ich <DEPPENACCENT> immer noch zum Wettbewerb für lesbische Literatur schicken -
sonst wüsste ich auch niemanden, der sich dafür interessieren würde. :roll:
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trigger
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Beitrag von trigger »

Ach, hätte ich gern gelesen, Murphy. Leider grad erst wiedergekommen (nein, das schreibt man zusammen, fisherman).
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