Michel Birbaek - Wenn das Leben ein Strand ist...

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mordsfilm
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Michel Birbaek - Wenn das Leben ein Strand ist...

Beitrag von mordsfilm »

... sind die Frauen das Mehr.

Wie der Titel des Werks heißt, der aber leider in die Topic Zeile nicht vollständig reinpaßt.

Vic trägt sein Leben in seiner Survival-Tasche: Seinen Notebook und ein paar Klamotten. Nach Hause schafft er es nicht, denn dort ist Grace. Das heißt, eigentlich ist sie nicht mehr dort und genau das ist Vics Problem: Sie hat ihn verlassen.
Erst verschafft er ihr die Titelrolle im ersten Kino-Film seines besten Freundes, der dann ein sensationeller Erfolg wird und sie auf alle Titelblätter der Republik bringt, und dann läßt sie ihn für irgendeinen Schauspieler sitzen, die Liebe seines Lebens, seine "Miss Right".

Jeder sucht sie doch, die richtige Frau und Vic dachte, er hätte sie gefunden.

Aber das Leben ist eben kein Drehbuch, wie Vic sie zusammen mit seiner Partnerin Buddy schreibt.
Bei Vic kommt nicht in Minute 70 die unerwartete und obligatorische Wende in der Handlung.

Und so hat er den Blues.

Vics Leben ist wild, durcheinander, unstrukturiert und voller Frauen.
Mit Patricia lebte er 5 Jahre in einer WG, hatte nie etwas mit ihr, aber ihre Tochter, die Vic nur Keks nennt, liebt ihn. Und ihr leiblicher Vater ist ein Arschloch.
Dann ist da Kata, die Cutterin, mit der er einen heißen Sommer verbrachte, bevor er Grace traf.
Seine Autoren-Partnerin Buddy liebt er auch und sie ihn, aber sie ist mit dem Stuntman Stephen verheiratet, der seit dem letzten Dreh unter Gedächtnisproblemen leidet.

Vic will nur eins: Seine Grace zurück. An jeder Ecke springen ihn die Erinnerungen an. Aber er hat ihr ja verboten, ihn anzurufen.

Auf den Promiparties, auf denen er sich mit olympischem Ehrgeiz zusäuft, erkennt man ihn immer wieder. Ist das nicht der Typ, der mal mit "unserer Grace" zusammen war?
Es kotzt ihn an.
Denn es war seien Grace, bevor sie "unsere Grace" wurde.

Seine Freunde und Freundinnen sagen ihm, er wird darüber hinwegkommen. Sie wird nicht zu ihm zurückkehren. Andere Mütter haben auch schöne Töchter.
Möglich.
Aber was immer Vic versucht, es geht nicht so einfach. Das darüber Hinwegkommen.

Er weiß es, es hilft nichts. Irgendwann kann er die paar Klamotten, die er in seiner Tasche trägt, nicht mehr im Waschsalon in die Maschine stecken.
Dann muß er seine Wohnung wieder betreten.

Und dann?



Wäre dieser Roman ein neuentdeckter des 19. Jahrhunderts, dann würde ihn Marcel Reich-Ranicki als einen wundärrrrbaaaren Lieeeebesromaaaaaan bezeichnen.

Michel Birbaek hat ihn aber im 21. Jahrhundert geschrieben und deswegen wird ihn ein RR höchstwahrscheinlich ignorieren.

Leider. Denn die deutsche Litertaturlandschaft hat seit langer, langer Zeit keinen derart ergreifenden, anrührenden, erregenden, komischen, tragischen und liebevollen Roman mehr gesehen.

Interessanterweise bedarf es eines Dänen um eine derartig sensationelle Wegmarke in dem orientierungslosen Zickzack-Parcours der deutschen Gegenwartsliteratur zu setzen.

Birbaek gelingt es in einem Grad die Seelenlandschaft seines Helden zu entblößen, wie man es in dieser Authentizität und Verletzlichkeit eigentlich nur von den großen Engländern kennt.

Ich scheue mich nicht, Birbaek in einem Satz mit Julian Barnes und Nick Hornby unterzubringen, denn was er uns hier präsentiert, ist nicht Papier gewordene, schwerfällige, hermetische Therapie, sondern pralles, sinnliches Leben in allen wahrnehmbaren Nuancen.

Michel Birbaeks Roman hat mich in einer Weise berührt und bewegt, wie ich es bei einem deutschen Werk zum letzten Mal bei Reinhold Zieglers "Überall zuhause, nirgendwo daheim" vor zehn Jahren erlebt habe.

Dieser Roman steckt in einer unglaublichen Leichtigkeit voll Menschlichkeit in ihrem ursprünglichsten Sinn und entwickelt darüber einen Sog, dem man sich einfach nicht entziehen kann.

Nach der sehr, sehr kurzweiligen Lektüre bleibt ein tiefer Nachklang, der einen dazu bringen kann, sich selbst und sein eigenes Verhältnis zu den Menschen der nächsten Umgebung zu betrachten.

Und sich zu fragen: Wie liebe ich?

10 von 10 Punkten.

Literaturhighlight des Jahres!
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